Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Schon der Titel ist sperrig: Man erwartet doch eher das Wort „unsichtbar“? Was es mit der ungewissen Mauer auf sich hat, erfährt man möglicherweise in dem Roman gar nicht. Denn Realität und Fiktion vermischen sich ineinander, die Übergänge verschwimmen wie die Figuren in einem Nebel von Ungewissheiten.

Die Handlung ist rasch zusammengefasst. Ein Siebzehnjähriger ist unsterblich in eine Sechzehnjährige verliebt, die ihm von einer fiktiven Stadt erzählt, in der ihr wahres Ich lebt. Nach einigen Spaziergängen am Fluss einen Sommer lang ist sie plötzlich verschwunden. Der namenlose Erzähler wird diese erste große, unschuldige Liebe niemals vergessen und sich zeitlebens nach ihr sehnen. Er studiert und ist viele Jahre im Buchhandel in Tokyo erfolgreich tätig, hat Liebschaften, bleibt aber ein Einsamer, da er für sich keine Frau findet, die dem jungen Mädchen gleicht.

Eines Tages findet er sich in der Stadt der ungewissen Mauern wieder, wie er dorthin gelangt ist, ist ungewiss, der Torwächter empfängt ihn und verätzt seine Augen, da er nun als Traumleser tätig sein wird. Dort trifft er das junge Mädchen wieder, aber sie erkennt ihn nicht mehr, da er gealtert, sie aber jung geblieben ist. Sie bereitet ihm  täglich einen Tee für seine schmerzenden Augen zu, er darf sie abends nach Hause begleiten, that’s it. Er ist eine raue und trostlose Stadt, die Menschen sind arm, essen nur einmal am Tag und tragen zerschlissene Kleidung, es gibt keine Bücher und kein Zeitempfinden. Die Einzigen, die die Stadt verlassen können, sind die Einhörner, aber die meisten verenden auf schreckliche Weise, wenn es Winter ist. Man muss beim Betreten der Stadt seinen Schatten abgeben, der ab nun von dem Torwächter bewacht wird und langsam stirbt. Dieser bittet den Erzähler flehentlich, die Stadt wieder zu verlassen und in seine alte Welt zurückzukehren, was ihm auf gefährliche Weise auch gelingt. Dort findet er sich aber nicht mehr zurecht, er kündigt seinen Job und bewirbt sich für eine Stelle als Bibliotheksleiter in der kleinen Stadt Z. in der Präfektur Fukushima.

Realität und Fiktion werden hier wieder verwoben, es taucht ein freundlicher Geist auf und ein Junge mit einem gelben Pullover, der eines Tag spurlos verschwindet und den er in der Stadt mit den ungewissen Mauern wiederfindet.

Auch wenn man als Leserin zeitweise den Überblick verlieren und sich fragen könnte, was nun wirklich ist und was nicht, folgt man den Erzählsträngen der beiden Welten und der meditativen Sprache des Romans gerne. Alles fließt letztlich ineinander, ergibt (k)einen Sinn und ist kunstvoll gestaltet.

Man wird sich fragen müssen, wofür dieser Sehnsuchtsort „Die Stadt und ihre ungewissen Mauern“ steht, dem die Figuren im Roman verfallen, der sich dann doch aber als unwirtlicher Ort entpuppt und nicht als Paradies.

Was auffällt ist, dass die männlichen Figuren unter der Kälte und Einsamkeit der Gesellschaft leiden. Sie sind anders und können sich nicht einfinden in dem ständigen Druck, der ihnen von außen auferlegt wird, sie sehnen sich nach Liebe, Erlösung und Zugehörigkeit. Fast alle sind begeisterte Leser und haben von Berufs wegen mit Literatur zu tun. Weibliche Figuren spielen hingegen nur eine Nebenrolle, sie werden begehrt, sie verschwinden, begehen aufgrund widriger Umstände Selbstmord oder haben sich ganz in sich verschlossen.

Murakami schreibt in einem Nachwort, dass der Stoff dieses Romanes eine gleichnamige Kurzgeschichte ist, die er 1980 veröffentlicht hatte. Vierzig Jahre lang sei er damit unzufrieden gewesen, denn er habe als junger Mann noch nicht die schriftstellerischen Fähigkeiten besessen, den Stoff auf künstlerische Weise zu bewältigen. Erst in der Zeit der Pandemie, als er drei Jahre lang fast gänzlich zurückgezogen in seinem Haus lebte, konnte er die Geschichte in eine für ihn passende Form bringen. Dass Realität und Fiktion so sehr ineinandergreifen, könnte ein Hinweis darauf sein, wie sehr die Welt damals aus den Fugen geraten ist und die Grenzen zwischen innen und außen verschwommen sind. Die Einsamkeit der Menschen ist nie so sehr ins Auge gerückt, wie damals, eine ungewisse Mauer, als man glaubte in einem Traum zu leben, der aber erschreckende Realität war.

Wie Murakami es ausdrückt: „Die Wahrheit liegt nicht im unveränderlichen Stillstand, sondern im steten Wandel. Das ist das Wesen des Erzählens, wie ich es sehe.“

Bernhard Schlink: Das späte Leben

Wenn man Schlinks „Der Vorleser“, seinen wohl berühmtesten Roman aus dem Jahre 1996 gelesen hat, der von der ersten großen Liebe eines Jugendlichen zu einer viel älteren Frau handelt, fragt man sich, welches Thema der Autor in seinem neuen Roman „Das späte Leben“ aufgreifen würde. So viel sei verraten: Er handelt von einer letzten großen Liebe eines alten Mannes zu einer 30 Jahren jüngeren Frau und ihrem gemeinsamen Kind.

Martin, ein 76 Jahre alter emeritierter Jura-Professor, erfährt, dass er nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Bauchspeicheldrüsenkrebs: Wie die verbleibende Zeit mit dieser Diagnose verbringen? Sein Leben so wie bisher leben, das Kind vom Kindergarten abholen, kochen, mit dem Jungen spielen, warten, dass die Frau, eine erfolgreiche Malerin, am Abend nachhause kommt, um ihr nun sagen zu müssen, dass er nur noch einige wenige gute Wochen haben werde. Wie wird sie darauf reagieren? Sie, die eine kühle und pragmatische Frau ist, nimmt ihn in die Arme und weint ein bisschen. Trotzdem wird sie zunächst nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit ihrem Mann widmen, er findet auch heraus, warum. Um den sechsjährigen Sohn David etwas zu hinterlassen, trägt sie ihm auf, ein Video zu drehen, um ihm etwas mitzugeben zum Beispiel, wie man sich rasiert, sie hatte das  einmal in einem Film gesehen. Er gesteht sich ein, dass er das nicht könne und schreibt ihm Briefe, die seinem Sohn seine Werte und Auffassungen darlegen sollen. Sie handeln von Glauben, Gerechtigkeit, Arbeit, von der Liebe und dem Tod.

Überhaupt gibt es nun zu entscheiden, was er in den wenigen Wochen noch tun kann, wen er treffen oder welches Buch er noch lesen will. Von wem er sich verabschieden und was er noch ausrichten könne angesichts der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt. So schrumpfen seine Verbindlichkeiten und Möglichkeiten immer mehr zusammen und letztendlich will er nur noch mit seiner Frau und seinem Sohn eine gute Zeit verbringen, ihnen seine Liebe schenken, in der Hoffnung, sich dadurch in ihren Erinnerungen zu verankern: Essen und ins Kino gehen, seinem Sohn zeigen, wie ein Komposthaufen gebaut wird, gemeinsam ein Bild für die Mutter malen, wandern gehen und Staudämme bauen, ans Meer fahren und im Liegestuhl sitzen und David beim Spielen mit Freunden zuzuschauen, ein Bild, das in Erinnerung geblieben ist aus Viscontis Verfilmung von „Der Tod von Venedig“. Sich auf das Wesentliche konzentrieren, manches noch sagen und tun, wovon man glaubte, man hätte noch Jahre Zeit dafür.

Neben all der Wehmut und dem Verlustschmerz treten Konflikte mit seiner Frau auf, sie öffnet ihm die Augen so kurz vor seinem Tod, besonders über seine Lebenslügen und Schatten. Fragen, wie hatte er genug geliebt, beschäftigen ihn und er versucht eine ehrliche Antwort darauf zu finden. Haben die gemeinsamen 6 Jahre mit seinem Sohn ausgereicht, ihm zu geben, was er selbst vermisst hatte? „David sollte lieben und sich lieben lassen, ohne sich abzustrampeln und Dornenhecken zu überwinden und bei allem Abstrampeln unsicher sein, ob er gut genug war.“

Wenn im „Vorleser“ die Zukunft für Michael Berg nach der ersten großen Liebe noch offen ist, ist sie für Martin Brehm in „Das späte Leben“ nur noch Vergangenheit. Angesichts des Todes, der ihm schon fest im Nacken sitzt, muss Martin sich quälenden Fragen stellen. Hatte er sein Leben so gelebt, „dass es sich, wann immer einen der Tod trifft“ erfüllt hat?Wie seine Antworten darauf ausfallen, lesen Sie in dem berührenden und altersmilden Roman von Bernhard Schlink.

Eines sei nun doch noch verraten: Ein schlechtes Vorbild für ein geglücktes Leben ist der Held von „Das späte Leben“ nicht.

Weihnachtswunder (Texas 24. 12. 2023 – 5. 1. 2024)

Westtexas

Seit vielen Jahren reisen wir zu dritt durch die Welt: wir waren in Asien, Amerika und besuchten viele Länder in Europa. Nun scheint dies ein natürliches Ende zu finden. All das wurde uns während unseres Weihnachtsurlaubs bewusst, als wir zu viert im Westen Texas unterwegs waren, der von gewaltigen Naturschönheiten zeugt, aber auch von großer Armut, verwaisten Autobahnen durch verlorene Landschaften, von der Wüste und wilden Tieren. Davon will ich berichten.

Der Ausgangspunkt war wieder einmal Houston, das man von Wien aus nach einem 14-stündigen Flug erreicht. Die viertgrößte Stadt Amerikas ist von vielspurigen Autobahnen durchschnitten, auf denen vor allem Trucks unterwegs sind. Will man ein Sandwich kaufen, fährt man in rasendem Verkehr mindestens 20 Minuten auf einer dieser unzähligen Stadtautobahnen, um in einen Park zu gelangen, nicht weniger als 30 Minuten. Es scheint, dass immerzu Hundertausende Autos von da nach dort fahren, um irgendetwas an einem weit entfernten Ort zu besorgen. Ja, hier besuchen wir am Weihnachtsabend das wirklich wohlhabende Viertel, dessen Häuser so geschmackvoll und ästhetisch beleuchtet sind, dass wir mit Tausenden anderen im Stau stehen. Kommt man dann in die Viertel der nicht mehr ganz so Reichen, ufert die Festbeleuchtung aus, wird überbordend und kitschig. Mir wurde gesagt, dass die Besitzer dort beleuchten müssen, wenn nicht, sei eine Strafe zu bezahlen.

Die erste Station unserer Reise ist Fredericksburg, eine von Deutschen gegründete Stadt, die eine schmucke Architektur aufweist und in der laut Reiseprospekt noch Deutsch gesprochen wird. Wir gehen die Straßen auf und ab, besuchen Lokale und Shops und vernehmen kein einziges deutsches Wort, nach dem wir uns so sehr sehnten.

Brewery Fredericksburg

Also weg, hinein in die Wüste, zu einem einsamen Prada Shop im Nirgendwo, natürlich Fake und ein Kunstwerk, vorbei an Valentine, der für mich ärmsten Stadt der Welt mit seinen kümmerlichen 78 Einwohnern, über einen Abstecher in die Künstlerkolonie in Marfa zurück nach Alpine, einer Universitätsstadt mitten in der Wüste. Hier wird, wie in ganz Westtexas Spanisch gesprochen, denn man ist der Grenze sehr nahe und es wird überall gewarnt, Autostopper mitzunehmen, es könnten Flüchtlinge sein. Überraschend ist, dass es immer wieder eine „Border control“ gibt, an der wir unsere Pässe herzeigen müssen und genau befragt werden, was wir in diesem unwirtlichen Teil der USA wollten. Schaut man in die unendliche Weite hinein, ist der Gedanke, dass irgendwer die Hitze, Grenzzäune, Posten und Trockenheit überwinden könnte, völlig abwegig, sogar im Winter. Wir hingegen suchen das Abenteuer und haben eine Zeltübernachtung in der Wüste gebucht, mit Lagerfeuer und riesigem Bett, kuschelig warm und zu einem stolzen Preis. Glamping heißt diese Form von Luxus, so übersteht man auch eine Nacht bei Minus vier Grad im Zelt und wacht erholt und sicher am nächsten Morgen auf, denn an diesem schönen Tag wird im Nationalpark „Big Bend“ eine Wanderung unternommen.

Wer Einsamkeit und wilde Tiere sucht, kann sie hier finden, gemeinsam mit einer Landschaft, die einem den Atem verschlägt, so schön und fremdartig breitet sie sich vor unseren Augen aus. Danach wird die Ghosttown Terlingua, eine ehemalige Minenstadt, besucht, dort essen wir, bärenhungrig von der anstrengenden Wanderung, die besten Enchiladas der Welt. In Alpine, wo wir übernachten, geraten wir in ein Konzert von zwei Gitarristen, die spanische Lieder singen und träumen davon, welche Sehnsucht in ihnen verborgen ist.

Am nächsten Morgen geht es vorbei am riesigen Lake Amistat, an unzähligen Publik Storages und Werbungen für „Breakfast all day“, „Margarithas to go“ und „Learn to code – get hired“ nach San Antonio, das wir schon auf einer früheren Reise besucht haben. Hier gehen wir in den „Botanischen Garten“, eine Augenweide und mit stolzen Eintrittspreisen. Wir können uns nicht sattsehen an den blühenden Pflanzen, lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen und bewundern die fröhlichen, stilvoll gekleideten spanischen Familien, die im Garten Ruhe und Erholung suchen.

Danach brechen wir auf, nach langer Fahrt kehren wir zurück nach Houston, das wir begleitet von einer Schar von Schutzengeln, dankbar, alle Gefahren überstanden zu haben, wohlbehalten am letzten Tag des Jahres erreichen. Wir sind zurück in der hellbeleuchteten Zivilisation und im rauschenden Stadtlärm. Auch davon gibt es noch einiges zu berichten …

Von Fjorden, Stabkirchen und Kreuzfahrern: Südnorwegen 31. 7. – 8. 8. 2023

Südnorwegische Berglandschaft

Wenn jemand eine Reise tut, hat er etwas zu erzählen. So auch ich, die Anfang August in Südnorwegen mit einer illustren Reisegruppe unterwegs war. Unterwegs ist nicht untertrieben, denn wir haben mit einem österreichischen Reisebus rund 2000 Kilometer zurückgelegt, an Fjorden entlang, auf Fähren und engen Gebirgsstraßen hinauf und hinunter, sahen Gletscher, die bereits auf 1400 Metern liegen, vorbei an Stabkirchen und Häfen mit unzähligen malerischen Fischerbooten und Yachten. So verbrachten wir täglich viele Stunden reisend, um die norwegische Landschaft zu erkunden, durchfuhren einsame Gebirgsketten und gerieten in Hafenrummel, weil überall ein riesiges Kreuzfahrtschiff seine Gäste entlassen hatte.

Oslo war der Beginn unserer Erlebnisreise, es ist, wie die geringe Einwohnerzahl, räumlich überschaubar und rasch besichtigt: Beeindruckt von der modernen Oper, der Deichmann-Bibliothek und dem Munch-Museum, die aus dem Meer herauszuragen scheinen, befinden sich gegenüber mietbare Saunahäuschen, deren Besucher im sauberen Hafenbecken Abkühlung vom heißen Aufguss suchen.

Opernhaus Oslo

Von dort hinauf auf die Festung Akerhus, hinüber zum monumentalen Rathaus, über das bescheidene königliche Schloss hinunter zur Hauptstraße, der Karl Johans gate, in der Restaurants und bunte Blumenarrangements zum Verweilen locken, schon hat man das Gefühl, Wichtiges von Oslo gesehen zu haben. Nein, es gibt noch den Holmenkolen, die gewaltige Sprungschanze, die einem gleichsam mit einem Sprung in die Stadt befördert und den berühmten Frognerpark mit seinen 200 Skulpturen von Gustav Vigeland, die aus der Zeit gefallen scheinen. Hier fallen die hart trainierenden Soldaten und Soldatinnen mehr ins Auge, denn in Norwegen müssen nicht nur Männer, sondern auch Frauen dem Vaterland dienen.

Frognerpark

Als Nächstes wird die Museumshalbinsel Byfdo angefahren, dort kam man das schwankende Polarschiff Fram betreten, den tobenden Wind und die eisige Kälte spüren und erleben, was mutige Männer aus früheren Zeiten in ihrer Abenteuer- und Entdeckungslust bereit waren zu ertragen, den Tod miteingeschlossen.

Friedhof Vradal

Über die Notodden erreichen wir die Heddaler Stabkirche, die größte in Norwegen, umrahmt von einem Friedhof mit zierlichen Grabsteinen und kargem Blumenschmuck.

Durch die südnorwegischen Berge geht es über die Sirdalsheide nach Starvanger, berühmt auch als Ölstadt. Hier erwartet uns nicht nur ein hübsches Altstadtzentrum mit schmucken weißen Häusern, sondern auch ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das den alten Hafen eingenommen hat. Kein Verweilen ist möglich, denn Partymusik und dichtes Gedränge vertreiben alle, die gerade aus der Gebirgseinsamkeit kommen.

Hafen Stavanger

Am nächsten Tag lockt der berühmte Preikestolen, dessen steilen Aufstieg wir im dichten Nebel gemeinsam mit tausend anderen Aussichtssehnsüchtigen wagen.

Oben angekommen ist die Plattform bummvoll, einige besonders Wagemutige lassen die Beine über den hunderte Meter senkrecht in die Tiefe gehenden Felsen baumeln oder kommen beim ausgelassenen Fotoshooting dem Abgrund gefährlich nahe. Wie erleichtert ist man, weil man nicht schmerzverzerrt humpelt, als die Preikestolen-Hütte im Tal erreicht wird.

Am 5. Tag kommen wir endlich nach Bergen, den eigentlichen Anlass meiner Reise. Seit ich „Min Kamp“, die sechs autobiografischen Romane von Karl Ove Knausgard gelesen habe, sehne ich mich nach dieser Stadt, in der der Schriftsteller seine prägenden Jahre erlebt und an deren Glück und Elend er sein Lesepublikum intensiv teilhaben lässt. Groß war die Enttäuschung, als ich alleine durch das kalte, windige Bergen auf Entdeckung ging, mir kam es schmutzig, überlaufen und baulich heruntergekommen vor. So flüchtete ich mich auf den Floyen, den Aussichtsberg, stellte mir beim Auf- und Abstieg vor, dass hier der berühmte Knausgard gegangen sein könnte und versöhnte mich mit der Stadt hoch oben mit Blick auf die sich im Meer spiegelnde Sonne.

Stabkirche Hopperstad

Die Fahrt geht am nächsten Morgen weiter, über Voss wird Vik mit einer der schönsten Stabkirchen des Landes erreicht, dann über den Sognefjord in steilen Serpentinen hinauf auf das Sognefjellet (1397 Meter), schon befindet man sich wieder umringt von den schneebedeckten Bergen des Jotunheimer Nationalparks. Kurze Fotostopps und wieder sitzt man im Bus, hier eine Wanderung zu unternehmen scheint mehr als unwirtlich.

Von Lom geht es am nächsten Tag hinunter zu dem weltberühmten Geiranger- Fjord, auch hier treffen wir auf viele Kreuzfahrer, die den Zwischenstopp wie wir zum Einkaufen in den zahlreichen Souvenirläden nutzen, auch hier zeigt sich die ganze Pracht des Fjords vor allem von der Höhe aus. Am Abend erreichen wir Alesund, am Hausberg Aksla erahnen wir schon, was uns den Rest der Reise begleiten wird.

Alesund

Der Starkregen, der in Slowenien und der Südsteiermark zu folgenschweren Überschwemmungen und Murenabgängen geführt hat, ist nun auch in Südnorwegen angekommen. Wir werden die Sehenswürdigkeiten der nächsten zwei Tage, Romsdalsjord, die abenteuerliche Trollstiege, Romsdalberge, Dombas, Lillehammer mit Regen zugeschüttet, sodass nur noch ein Betrachten vom Busfenster aus möglich ist. Auf der Fahrt gibt es von nun an immer wieder schrille Warnmeldungen auf unsere Handys, dass man unnötige Reisen sein lassen sollte. Mutig fährt der unbeirrbare Busfahrer auf den nun teslafreien Straßen gen Oslo, riesige Pfützen, die gewaltig spritzen, begleiten uns. Geschafft, das Flugzeug hebt ab und kurze Zeit später fliegt es bereits über ein leicht bewölktes Wien, vom Westen kommend, landet und man ist bass erstaunt, dass es in unserem Land so schön warm ist.

Meinen liebenswerten, stets pünktlichen Mitreisenden von „Südnorwegen: Fjorde“ gilt für das Gelingen dieser wunderschönen Reise ein kräftiger Applaus.

Blue Skies (T. C. Boyle)

Wenn man sich gerade im kühlen Salzkammergut mit seinen gemäßigten Temperaturen aufhält, wo die Nächte und der Schatten noch kühl sind, die Wiesen grün, wo das Wasser die Felsen herabrieselt und die Seen fast noch zu kalt zum Schwimmen sind, dann glaubt man sich in einem Paradies auf Erden. Dieses haben längst auch Investoren entdeckt und so entstanden in den letzten Jahren überall High-End-Lodges mit stolzen Preisen pro Übernachtung, die viel Schönheit und Luxus versprechen. Hier scheint die Welt in Ordnung, der Klimawandel macht sich insofern bemerkbar, dass im Sommer sehr oft die Sonne scheint, der Grimming keinen Schnee hat und es nicht mehr wochenlang durchregnet wie in früheren Zeiten.

Ein anderes Bild der Welt malt T. C. Boyle in seinem viel besprochenen Roman „Blue Skies“, einem Klimaroman oder auch „Cli-Fi“ genannt. Hier ist nichts mehr in Ordnung und am Beispiel einer amerikanischen Durchschnittfamilie wird drastisch gezeigt, was der Welt in nicht allzu langer Zeit passieren könnte: Ein Teil der Familie Cullen (Vater Frank, Mutter Ottilie und Sohn Cooper) lebt im heißen Kalifornien, das mehr und mehr austrocknet und von Missernten bedroht ist. Cooper, der als Entomologie in einem Institut arbeitet und das Artensterben im Feld hautnah erlebt, hat in seinem missionarischen Eifer die Mutter davon überzeugt, eine Heuschreckenzucht zu beginnen, um Heuschrecken- und Mehlwürmerrezepte ihren Gästen unterzujubeln. Am Beginn des Romans schwimmt sie jeden Morgen in ihrem Pool, um sich abzukühlen, glücklich darüber, einen Pool zu besitzen. Die Heuschreckenzucht misslingt, auch die Bienen, die der Sohn herbeischafft, liegen eines Morgens tot am Boden, bald sterben aus unerfindlichen Gründen alle Insekten. Das Wasser wird immer knapper, die Körperpflege muss auf einmal in der Woche reduziert werden, die ausbreitenden Waldbrände bedrohen Besitz, Leben und die Nahrungsmittel der Einwohner.

Tochter Cat hingegen lebt mit ihrem Barcadi-Mann Cooper in einem Strandhaus in Florida und möchte Influencerin werden. Um ihre Chancen zu erhöhen, legt sie sich eine Schlange zum Ausgehen und Posieren zu. Diese wird ein Eigenleben entwickeln und viel Unglück über Cat bringen. Vom Sunshine State kann nicht mehr gesprochen werden, denn es regnet die meiste Zeit und das Meer holt sich zurück, was der Mensch ihm abgerungen hat. Überschwemmungen machen das Autofahren unmöglich, Termiten befallen die Pfähle, die Beziehung zwischen Cooper und Cat wird auf die Probe gestellt, denn die Natur schlägt zurück und zeigt sich in ihrer bedrohlichsten Form.

„Blue Skies“ geht unter die Haut, nährt Ängste und will zu einer Verhaltensänderung aufrufen. Aber wie reagieren die Boyl’schen Figuren auf die zunehmende Verheerung ihres Lebensraumes, auf Probleme in Beziehungen?  In diesem Familienkosmos gibt für den einzelnen eine Antwort: Alkohol. Dieser spielt eine gravierende Rolle, um mit Freud und Leid umzugehen. Kein Vormittag vergeht, ohne dass Cat ihre Sinnleere nicht in Alkohol ertränkt, sie ist jung und schön, hat einen feschen Mann und ein nobles Strandhaus. Todd muss jedoch von einer Barcadiparty zur nächsten hetzen und so begnügt sie sich, Fotos mit Will I und später mit Willi II zu posten und sich dabei zu betrinken.

Cooper, der eine Zeckenforscherin als Freundin hat, wird von einer Zecke gebissen und nach einer bakteriellen Infektion kann er nur durch einen chirurgischen Eingriff gerettet werden. Auch er verbringt jetzt lieber die Zeit mit Alkohol als mit Feldforschungen, um seine Dissertation zu schreiben. Ottilie, die sich auf ein umweltverträgliches Leben umgestellt hat, kann nicht mehr ein Pensionierungsfest für ihren Mann ausrichten, weil ständig der Strom zur Kühlung des Essens ausfällt und die vielen Klospülungen den Wasservorrat arg limitieren würden. Alle haben der außer Kontrolle geratenen Natur nichts entgegenzusetzen, sondern können sich nur in ihrer Ohnmacht so gut es geht einrichten, um zu überleben.

Gibt es Hoffnung für diese Menschen? Am Schluss sind Mutter und Sohn in einem Reservat auf der Suche nach….?  Ja, sie entdecken etwas. Ob dieser Schwarm von Schmetterlingen Grund zur Hoffnung ist, wird T. C. Boyle vielleicht in seinem nächsten Roman erzählen.

Apropos: Als ich bei meiner Wanderung durch das Koppental in der Schutzhütte einkehrte, wollte der Wirt, dass ich hinunter zur Traun gehe und mir die „Blaue Lagune“ anschaue. Natürlich griff ich in das Wasser. Es war bacherlwarm, kein Fisch soll laut Wirt mehr dort zu sehen sein.

Genießen wir als versöhnlichen Abschluss Willi Nelsons Version von „Blue Skies“.

All The Beauty And The Bloodshed (Laura Poitras)

Ich wartete seit ewigen Zeiten auf diese Dokumentation. Sebastian hatte sie mir schon im September 2022 dringlich nach seinem Marathonbesuch bei den Filmfestspielen in Venedig ans Herz gelegt. Nach dem Goldenen Löwen und dem Oscar für den besten Dokumentarfilm nutzte ich gleich die erste Gelegenheit Anfang Juni, um die Premiere in Wien zu besuchen. Im Filmcasino gab Felix Hoffmann, Leiter von Arsenal Wien, eine kundige Einführung, der mit der Künstlerin selbst in Berlin zusammengearbeitet hatte. Das vollbesetzte Kino versank tief in das Leben und Wirken von Nan Goldin, einer berühmten amerikanischen Fotografin und Aktivistin. Jedoch war die Zeit für diesen Text noch immer nicht reif. Es brauchte noch einen ganzen Monat und einen erneuten Kinobesuch, das stete Schluchzen meiner Sitznachbarin, um mich an die Veröffentlichung zu wagen.

Im Mittelpunkt der Dokumentation steht Goldins Kampf gegen die mächtige Familie Sackler, die mit ihrem Medikament Oxycontin der Opoidkrise in den USA den Weg bahnte. Dieses Medikament, das nach Operationen als Schmerzmittel eingesetzt wird, führt rasch in eine starke Abhängigkeit, der in den USA bereits 500 000 Menschen zum Opfer gefallen sind und noch immer fallen. Die Familie Sackler hatte damit ein Milliardenvermögen gemacht und unterstützte mit großzügigen Beträgen berühmte Museen, Theater und Universitäten. Als Gegenleistung schmückte der Name Sackler ganze Abteilungen von Museen. Dagegen trat Nan Goldin und ihr Verein PAIN an. Sie veranstalteten Aufsehen erregende Kunstaktionen in den Räumen und vor den Museen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Millionen, mit denen Kunstförderung betrieben wird, Blutgeld sind, womit Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben. Als Symbol dafür dienten orange Pillendöschen, Rezepte von Oxycotin, die wie Schneeflocken von den Rängen des Guggenheim- Museums flatterten, Aktivisten, die leblos am Boden lagen und Sprechchöre.

Der zweite Erzählstrang der Dokumentation ist dem Leben und künstlerischem Schaffen von Goldin gewidmet. Die Motive der weltberühmten Fotografin waren immer Freunde und Bekannte aus der queeren Szene zunächst in Boston, dann in New York. Nan Goldin, die aus einer dysfunktionalen Familie stammt, litt ein Leben lang unter dem Selbstmord ihrer 17-jährigen Schwester Barbara. Um nicht ebenso traumatisiert zu werden wie die Schwester, rät ein Psychiater ihrem Vater sie zu einer Pflegefamilie zu geben, die sie aber bald verlässt. Sie findet ihre eigentliche Familie dann in der queeren Kunstszene. Sie fotografiert ihre Freunde in allen Lebenssituationen und gibt ihnen so Sichtbarkeit, Schönheit und Würde. Denn, wie Goldin in der Dokumentation erzählt, waren in den siebziger Jahren die Repressalien so groß, dass sich ihre Freunde tagsüber nicht auf die Straße trauten, weil sie Angst haben mussten, verhaftet oder verprügelt zu werden. Um ihre Kunst zu finanzieren, arbeitet sie als Stripperin in New Jersey und als Prostituierte. Aids wird viel Leid und Sterben über diese Gemeinschaft bringen. Als Nan Goldin eine Kunstaktion veranstaltet, um auf die Aidstragödie und das massenhafte Sterben aufmerksam zu machen, kommt es zu heftigen Protesten von Seiten konservativer Kräfte und es werden Unterstützungsgelder gestrichen. Aber auch dagegen wird lautstark auf den Straßen protestiert.

Das Leben von Nan Goldin ist mit ihren Kunstaktionen verwoben, ihre Bilder halten die Schönheit und Zerbrechlichkeit ihrer Community fest. Nan Goldin ist ihrer Zeit weit voraus: Niemand hielt es damals für wichtig, Bilder aus dem Leben von queeren Menschen zu zeigen. Es ist ein großes Vermächtnis, das die Künstlerin geschaffen hat und wohl nur wenige der jungen Menschen im Kino können sich wohl vorstellen, wie fremd und unsichtbar diese Welt noch in den neunziger Jahren in Österreich war.

Nan Goldin fotografierte sich selbst beim Sex, als schwer misshandelte Frau mit blutunterlaufenen Augen, erzählt von ihrer Drogenabhängigkeit und ihrer Überdosis, die ihr fast das Leben gekostet hätte und vom Selbstmord ihrer Schwester, der in der Familie ein Tabu war. Die Künstlerin versucht zu ergründen, warum sich ihre Schwester mit 17 Jahren vor den Zug gelegt hat. War es eine Geisteskrankheit oder waren es die Verhältnisse, die ihre jugendliche Rebellion im Keim erstickten und in schweren Depressionen endeten? Nan Goldin wird den Kampf ihrer Schwester gegen Konformität und Repression wieder aufnehmen und erfolgreicher weiterführen. Denn die Freude der Aktivisten ist groß, als bekannt wird, dass der Name der Familie Sackler aus vielen großen Museen dieser Welt verschwunden ist und dass ein große Summe Geld an die Opfer gezahlt werden muss.

Laura Poitras gelingt es einfühlsam, diesen Weg spannend zu dokumentieren und uns ein Portrait einer Frau zu zeigen, die mit ihren Bildern und Worten den Schmerz und die Schönheit eines Künstlerlebens offenbart. Man hätte ihr noch stundenlang zuhören können. Auch beim zweiten Mal.

The Whale (1922)

Als ich das erste Mal auf amerikanischen Autobahnen unterwegs war (siehe „Texas“) und bei „Buc-ee’s“ einkehrte, wandelte ich wie in einem Schlaraffenland umher: riesengroße Becher für die süßesten Getränke, überdimensionale Angebote aller kalorierenreichen Verführungen dieser Welt und Massen von Menschen, die kauften, als gäbe es kein Morgen.

Dieses Morgen zeigt der Film „The Whale“, den ich an einem regnerischen Aprilnachmittag mit einigen wenigen Auserwählten im Votivkino sah. Es hätte nicht deprimierender sein können. Ein Kammerspiel von einem fresssüchtigen Mann, immobil, eingeschlossen in eine dunkle, vermüllte Wohnung im ersten Stock, draußen Regen und Nebel, nur wenige Szenen zeigen einen kurzen Rückblick auf einen sonnigen Strandtag.

Hier hat sich Charlie (Brendan Fraser) auf seiner Couch verschanzt, er unterrichtet Online-Kurse über kreatives Schreiben, die Kachel des Instructors mit seiner sanften Stimme bleibt jedoch schwarz. Bald weiß man auch warum, er ist fettleibig, aufgedunsen, schwitzt, fast kahl und kann sich mit seinem Rollator nur noch schwerfällig in seiner Wohnung herumschleppen. Er ist körperlich am Ende, sein Herz ist am Versagen, denn er stopft gierig Unmengen von Nahrung in sich hinein. Seine Fressattacken, seinen Selbsthass und seine Selbstzerstörung erleben wir hautnah und in Großaufnahme über 117 Minuten. Aber er ist nicht allein: An seiner Seite ist Liz (Hong Chau), die ihn täglich besucht, seinen Blutdruck misst und ihn inständig bittet, wegen seiner Herzprobleme ins Krankenhaus zu gehen. Er will nicht, zu hohe Kosten, er habe keine Krankenversicherung, es sei ohnehin zu spät.

Nach und nach erfahren wir die Geschichte dieses Mannes: Warum er sich so gehen lässt, was ihn dazu gebracht hat, so aus der menschlichen Form zu geraten.

Er weiß, dass er sterben wird und nimmt Kontakt mit seiner 16-jährigen Tochter auf, die sich von ihm im Stich gelassen fühlt, seit er seine Frau wegen eines Liebhabers verlassen hat. Die kleine Familie hatte einige schöne Jahre (Strandbilder), bevor Charlie sich in seinen Schüler Alan verliebt und weggeht. Seine Tochter ist erst acht Jahre, es gibt 8 lange Jahre keinen Kontakt, denn der Vater ist ganz in seinen Liebhaber vernarrt. Aber Alan wird nicht glücklich mit Charlie. Schuld daran ist eine christliche Sekte namens „Neues Leben“, die die Endzeit predigt und von Alans Vater geführt wird. Dieser kann einen homosexuellen Sohn nicht annehmen und verstößt ihn.

Viele Probleme werden in dem Film, der eine Adaption eines gleichnamigen Theaterstückes von Samuel D. Hunter ist, aufgegriffen: Sucht, Homosexualität, Bigotterie, Scheidung, Liebe und Vaterschaft: Seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) hat Charlie viel Geld versprochen, wenn sie nun Zeit mit ihm verbringt. Aber sie ist wütend, rebellisch und böse, sie gibt ihm Schlaftabletten, postet unansehnliche Fotos von ihm im Netz und gibt ihn der Lächerlichkeit preis. Thomas (Ty Simkins), ein junger Missionar, der Charlie retten will, wird von ihr ebenfalls bloßgestellt, indem sie heimlich das Gespräch zwischen ihnen beiden aufnimmt und weiterreicht. Aber Charlie will endlich „etwas in seinem Leben richtig“ machen, sieht über alles hinweg und nur das Gute in seiner Tochter.

Alle haben in diesem Film Schuld auf sich geladen, alle sind gebrochen, verletzt und wütend. Auch Liz, die als Einzige einen klaren, ungetrübten Blick auf all diese menschlichen Katastrophen hat, versorgt Charlie mit riesengroßen Sandwiches.

Nun könnte man meinen, wieso sieht man einen Film, der Themen ausbreitet, die abgedroschen klingen und die man mit guter therapeutischer Hilfe doch in den Griff bekommen könnte. Diesem Zweifler könnte man jetzt zurufen, ja, Sie haben vollkommen recht, alles ist lösbar in unserer machbaren Welt, leider gelingt dies nicht immer. Die Verstrickungen des Lebens sind oft schwer zu entwirren, die Schuld bleibt im Verborgeneren und oft braucht es die Todesnähe, um sich ihr zu stellen. Und so zu erkennen, was das Leben blockiert und in Selbstzerstörung seinen Ausdruck findet.

Dass „The Whale“ es schafft, eine (fragwürdige) Erlösung im Diesseits anzubieten, ist vor allem den exzellenten Schauspielern zu verdanken. Sie geben alles, um das Finale nicht ganz in Kitsch zerrinnen zu lassen, sondern dass man ergriffen wird von dem dunklen Schmerz, der das Leben dieser Menschen verhüllt und der einzigen Befreiung, die es laut dem Regisseur Darren Aronofsky daraus gibt: sich der Wahrheit zu stellen und „ehrlich zu sein“.

The Whale

The Fabelmans (2023)

Wenn man die Filme von Steven Spielberg von Beginn an mitverfolgt hat, wird man sich vielleicht fragen, was hat ihn geprägt, woher ist er gekommen? Ich gestehe, ich habe nicht darüber nachgedacht. Talent ist Talent, es kann immer und überall auftreten, aber meist geht es nicht ohne Förderung und MentorInnen. So ließ ich mich überraschen, was der teilweise autobiographische Film „Die Fabelmans“ über die Kindheit und Jugend des Regisseurs zu berichten hat.

Dass Sammy Fabelman schon als Kind seine Faszination für das Kino entdeckt, wird gleich am Beginn gezeigt. Seine Eltern nehmen ihn als Sechsjährigen mit in den Zirkusfilm „Die größte Schau der Welt“ und schon ist es um ihn geschehen. Um das Trauma eines Zugunglücks in dem Film zu verarbeiten, bekommt er eine Kamera, die Angst und Schrecken von nun an zähmen wird.

Dass Sammy Fabelman (Gabriel LaBelle) eine jüdische Herkunft hat, wird den ganzen Film präsent sein. Einerseits werden alle Feste in großem Familienkreis gefeiert, mit allen Konflikten und Abhängigkeiten, die damit einhergehen. Andererseits kommt auch immer wieder das Fremdsein und der latente Antisemitismus im Amerika der 50er und 60er Jahre zum Vorschein, am stärksten nach dem Umzug nach Kalifornien.

Aber „Die Fabelmans“ sind vor allem eine Familiengeschichte: Vater Burt (Paul Dano) ist ein sehr  erfolgreicher Elektroingenieur, dessen Karriere seine Familie immer wieder zu unfreiwilligen Umzügen zwingt. Mutter Mitzi (Michelle Williams), eine verhinderte Konzertpianistin, folgt dem klassischen Bild einer Hausfrau, die sich mehr schlecht als recht um ihre vier Kinder kümmert. Und dann gibt es noch den besten Freund des Vaters, Bennie (Seth Rogen), der überall dabei ist, obwohl die Großmutter betont, dass er nicht zur Familie gehört. Alles läuft für lange Zeit ziemlich harmonisch, der Älteste, Sam, wird bei seiner Filmleidenschaft tatkräftig von allen Familienmitgliedern unterstützt. Er dreht Western in Arizona und Horrorfilme in Kalifornien und hält mit der Kamera alles fest, was sich im Fabelman-Kosmos ereignet. Einmal bittet der Vater ihn den Film über den Campingurlaub fertigzustellen, um die Mutter aufzuheitern. Beim Schneiden des Films stößt Sam auf ein dunkles Geheimnis, das ihn zu zerreißen droht. Ein weiterer Umzug steht an.

In Kalifornien ist Sam zunächst aber damit beschäftigt, sich in der antisemitischen High-School zu behaupten und er muss so manche Schläge und Schikanen einstecken. Aber er lernt auch ein Mädchen kennen, mit der er es ernst meint, die Jesus liebt und  ihn mit großer Leidenschaft zum Beten und Küssen verführt. Der Abschlussball endet für ihn in einer Liebeskatastrophe, aber als Filmemacher holt er sich seine ersten Sporen. Er hat die Beachparty der Schule mit der Kamera begleitet und alle wichtigen Figurenkonstellationen auf die intimste Weise offenbart.

Der Film fängt recht lau und unspektakulär mit der Familiengeschichte der Fabelmanns an, einer klassischen Familie, mit einer sich aufopfernder Mutter und nach oben strebendem Vater. Niemand ist hier böse, der Vater verehrt die Mutter, ist gütig und liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sams Mutter hält lange durch, opfert ihre Kunst und Liebe, wird depressiv, bis alles aus dem Ruder gerät.

Je älter Sam wird, umso mehr gerät er in die Widersprüche seiner Familie und Gefühle, muss sich mit Ausgrenzung und Mobbing auseinandersetzen und seinen eigenen Weg finden. Das ist auch für ihn mit schmerzhaften Verlusten und viel Trauer verbunden. Diesen Reifungsprozess und seine Berufung fängt der Film großartig ein. Je unabhängiger er von seiner Familie wird, umso sympathischer und authentischer ist er. Je mehr er zu seiner wahren Bestimmung findet, umso besser sind seine Filme. Gerade das ist es, was den Film so spannend werden lässt. Was nimmt ein Künstler aus seiner Biographie und wie transferiert er sie in Kunst?

Es war nicht anders zu erwarten: ein schöner Film von Steven Spielberg, vor allem deshalb, weil er aus ganz normalem Leben eine berührende Geschichte über eine Familie machen kann, der man gerne und interessiert folgt.

Die Frau im Nebel (2023)

Seit meine jüngere Tochter ihre Masterarbeit über koreanische Filme geschrieben hat, bin ich ein Fan von koreanischem Kino. Selten wurde ich von den Produktionen enttäuscht, meist ging ich mit einem Gefühl der Erfüllung und Freude, einen wirklich guten Film gesehen zu haben, aus dem Kino. Dies gilt auch für Serien, die mich mithilfe von Netflix in Österreich erreichen. Der Film „Die Frau im Nebel“ („Decision to leave“) ist derzeit in vieler Munde, wird rege in den Zeitungen besprochen und natürlich sah ich den Film in Originalsprache mit deutschen Untertiteln. Ich mag das Koreanische, es hat etwas Urgewaltiges, etwas Tiefes, man glaubt sich in einem Land, in dem es noch echte, unverfälschte Emotionen gibt, die einen wie das Meer mitreißen.

Davon handelt der Film. Eigentlich ist es ein Film Noir, es gibt einen Mord, einen Kommissar und eine Verdächtige. Kommissar Hae-joon (Park Hae-il) bemüht sich mit großer Hingabe, einen Selbstmord (oder war es ein Mord?) aufzuklären. Ein Mann ist von einem Felsen gestürzt. Er verhört, observiert die verdächtige Ehefrau Seo-rae (Tang Wie) und ist misstrauisch, wie es sich für einen guten Kommissar gehört. Sie ist Chinesin, die von ihrem Mann, der in der Ausländerbehörde arbeitete, eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte. Dafür wird sie misshandelt und seine Initialen sind in ihrem Körper eingraviert. Hatte sie aber überhaupt die Möglichkeit, ihn von einem hohen Felsen in den Tod zu schicken? Denn sie pflegt hingebungsvoll alte Menschen und hat ein stichfestes Alibi. Sie kann es nicht gewesen sein. Außerdem übernimmt sie bald auch die Pflege des an Insomnie leidenden Kommissars, den sie mit Atemübungen in den Schlaf wiegt. Natürlich sind die Grenzen zwischen Beruf und Privatem längst überschritten, er kocht für sie ein „singuläres“ chinesisches Gericht und obwohl schon mit der Angeklagten emotional tief verstrickt, findet er immer mehr Indizien, die darauf hinweisen, dass sie doch die Mörderin sein könnte.

So bricht er alle Zelte in Busan ab und kehrt nach Ipo zu seiner emanzipierten Frau zurück, mit der er über 16 Jahre eine Wochenendehe geführt hatte, wo es außer Nebel und Schildkrötenentführungen keine anderen Verbrechen gibt. Aber eines Tages begegnet das Paar auf dem Fischmarkt einem anderen Paar, Seo-rae und ihrem Mann, und kurze Zeit später passiert ein Mord. Ihr neuer Mann ist ermordet worden. Und alles beginnt von vorne.

Die Aufklärung der Morde, die ja einen guten Krimi ausmacht, wird kunstreich und fast nebenbei erzählt. Aber kommt die Gerechtigkeit zum Durchbruch, werden die Morde gesühnt? Dies soll hier natürlich nicht verraten werden, aber eines schon: Verwirrende Gefühle kommen dem Kommissar in die Quere und lange ist man sich nicht sicher, ob er nicht von der Angeklagten manipuliert wird, damit sie erreicht, was ihr Ziel ist. Das Interessante ist, wie sehr wir verstehen können, warum der Kommissar so stark auf die Verdächtige reagiert. Wie bedürftig er ist, in einem Leben, das von ungeklärten Morden und zu viel Pedanterie überschattet wird, in einen erholsamen Schlaf zu fallen und aus seinem geordneten, sterilen Leben auszubrechen. Auch er sehnt sich nach Kontrollverlust, nach Leidenschaft, um die quälenden Bilder der Mordopfer vergessen zu können. Er kocht, putzt, sorgt sich, beobachtet und hält mittels Apple Watch alles fest, ist körperlich fit, kann kombinieren und verzweifelt.

Natürlich geht es, wie sich am Schluss herausstellt, vor allem um Liebe und wer wen mehr liebt und bereit ist, dies auch durch Taten zu zeigen. Es ist sehr überraschend, dass die Irrungen und Wirrungen der Liebe so sanft und zart den Film begleiten, obwohl der Film nur ganz wenige  Berührungen zeigt. Am Ende wird man erschüttert sein, wohin das Katz-und-Maus-Spiel führt.

Um den Film wirklich zu verstehen, muss man ihn zweimal sehen, alles ist kunstvoll angelegt und wird erklärt. „Die Frau im Nebel“ lässt einem zurück mit starken Gefühlen und der Sehnsucht, dass man gerne wieder in Korea wäre, um in Busan den Fischmarkt entlang zu schlendern, Soju trinkend und frischen Aal essend, die prächtigen Tempel dort besuchend und vor allem das gewaltige Meer, das am Schluss die Wahrheit ans Licht bringt.

Ein großartiger Film von Park Chan-wook , der dafür in Cannes den Preis für die beste Regie gewonnen hat, getragen durch die beiden Hauptdarsteller und dem Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit.

The Banshees of Inisherin (2022)

Freundschaft ist ein wunderliches Ding, sie kann entstehen und vergehen, man wünscht sich, dass sie ewig hält, aber sie ist sehr zerbrechlich. Sei es, dass man sich auseinanderentwickelt, dass zu viele Missstimmungen hineingeraten oder ein einziger Verrat nicht mehr zu kitten ist. Beste Freunde gibt es viele und man hofft, dass man wenigstens einen/eine im Leben hat.

Um Freundschaft geht es in dem irischen Film „The Banshees of Inisherin“, genauer gesagt um eine, die abrupt aufgekündigt wird. Man begibt sich in die zwanziger Jahre auf eine einsame irische Insel von abweisender Schönheit, besiedelt von vereinzelten Höfen und kargen Menschen. Mittelpunkt des sozialen Lebens ist wochentags das Pub und am Sonntag die Kirche. Hier begegnen wir Padraic (Colin Farrell), der gerade unterwegs ist, seinen Freund Colm (Brendan Gleeson) zum täglichen Pubbesuch abzuholen. Glücklich und leichten Schrittes geht er den Hügel hinab zum Haus seines Freundes, idyllisch am Meer gelegen. Aber der macht ihm nicht auf, später erfährt er den Grund: „I just dont`t like you no more.“ Padraic kann und will den Abbruch nicht akzeptieren. Die Insel und die Auswahl an Freunden ist klein, er lebt zwar mit seiner klugen Schwester Siobhan (Kerry Condon) harmonisch zusammen, die leidenschaftlich gerne liest. Er hingegen liebt die Käseherstellung und seine Tiere, vor allem aber seine Eselin Jenny und erfreut sich daran, ausführlich über sie zu erzählen. Colm, der ein alternder Folkmusiker ist, findet das nun langweilig und möchte sich fortan als Künstler ganz seinem Werk widmen, um von der Nachwelt nicht vergessen zu werden. Die Freundschaft zu Predraic mit seinem einfachen Gemüt steht seiner Selbstverwirklichung als Musiker im Weg.

Was passiert, wenn einer das plötzliche Ende einer langen Freundschaft nicht verstehen und akzeptieren will und der andere es aber bitterernst meint? Davon handelt der Film, er erzählt von der Schönheit einer kleinen irischen Insel, auf der nur wenige Menschen leben, er erzählt und Chancen und Möglichkeiten, von Enge, menschlichen Schwächen und Destruktion. Am Festland tobt der irische Bürgerkrieg, der manchmal mit Rauch und Detonationen herüberschallt. Dieser findet nun auf der Insel sein Gegenüber in Form von zwei Männern, deren ehemalige Freundschaft mehr und mehr übergeht in Wahnsinn und Gewalt. Kälte und Starrsinn dringen in den Kosmos des kleinen Dorfes ein, in dem die Welt oberflächlich geordnet und harmonisch erscheint, aber sich nun Abgründe auftun. Der Streit eskaliert immer mehr, jede Vernunft geht verloren und schließlich stehen sich die beiden Protagonisten in tödlicher Feindschaft gegenüber. Der herzensgute und tierliebende Padraic rüstet zum Vernichtungsfeldzug.

Colin Farrell spielt Padraic mit einer so großen Wärme und Offenheit, sodass schwer zu verstehen, warum Colm nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Er ist ein guter Mensch, nett, verträglich, friedfertig und möchte, dass alles so bleibt wie immer. Colm Doherty, der von Brendon Gleeson verkörpert wird, ist um einiges älter, seine Verzweiflung und Einsamkeit haben sich tief in sein Gesicht eingekerbt. Er erkennt seine Endlichkeit, möchte dem Mittelmaß entkommen und als Künstler unsterblich werden und nimmt sich die Freiheit heraus, dies gegen alle äußeren Hindernisse und sozialen Gepflogenheiten zu tun.

Es ist dem Regisseur Martin McDonagh zu verdanken, dass man für beide Männer Sympathien entwickeln kann, denn niemand ist eindeutig und klar im Recht bzw. Unrecht. Der Bürgerkrieg, der am Festland tobt, setzt sich auf der friedlichen Insel fort. Die Banshee, die Todesfee, ist allgegenwärtig und verbreitet schon lange Angst und Schrecken.

Nachdem man den Film gesehen hat, ist gewiss: Trotz vieler witziger Dialoge und schöner Landschaft ist die Handlung rau, unvorhersehbar und verlangt einem einiges ab. Aus den ersten dreißig Sekunden von Glück und Heiterkeit ist ein Meer von Schuld und Trauer geworden, die beiden großartigen Schauspieler haben das Ihre dazu beigetragen.